Bei den weißen Stiefmütterchen
(Sarah Kirsch)
Bei den weißen Stiefmütterchen
im Park wie er's mir auftrug [...]
Paradoxe Liebe
Was ist das für eine Liebe, wenn eine Geliebte fast schon lakonisch ausspricht: "so wollen wir hoffen, er liebt mich nicht mehr"? Warum diese Hoffnung, ungeliebt zu sein? Warum dieser Wunsch nach Einsamkeit?
Sarah Kirsch berühmtes Liebesgedicht "Bei den weißen Stiefmütterchen" beginnt mit einem geradezu einfachen und weitbekanntem Bild: Eine Geliebte wartet an einem verabredeten Ort auf ihren Geliebten. Irgendwo im Park, unter einem Baum, so wie es schon viele Male geschehen ist. Und auch etwas anderes ist bei diesem Bild nicht gerade ungewöhnlich: Er kommt nicht! Sie wurde versetzt.
Doch plötzlich durchbricht etwas dieses fast schon banale Bild des Rendez-Vous: Die Weide, stumme Zeugin der vergangenen Tête-à-Têtes, bricht ihr Schweigen! Fast schon besserwisserisch kommentiert sie das Warten der Frau: "siehst du", um dann den ersten unvermeidlichen Fakt gnadenlos festzustellen: "er kommt nicht". Ungekämmt, ist diese Weide, alt und blattlos. Der äußerliche Verweis auf den den kühlen Winter geht einher mit der kühlen, abgeklärten Analyse der alten Liebeszeugin: Er kommt nicht, sie habe es doch gewusst!
Sarah Kirsch definiert mit dieser kurzes Kommentierung der Weide den Charakter dieser Liebesbeziehung: vergebens, hoffnungslos, altbekannt. Wie die Weide, wie dieser Ort ist das eine Winterbeziehung, der wir begegnen. Und wie mit einem Reflex begegnet die Geliebte der Analyse der Weide, indem sie hastig die unmöglichsten Gründe erfindet, die den Liebsten daran hindern könnten, sie zu sehen: den Fuß gebrochen, eine Gräte verschluckt, eine Straße verlegt - nur um dann am Ende doch Eines widerstrebend herauszuwürgen: Er konnte seiner Frau nicht entkommen.
Und das wird wohl wieder die banale Wahrheit sein. Wahrscheinlich trägt er gerade die Einkäufe nach Hause, spielt mit den Kindern Mensch-ärgere-dich-nicht oder sitzt mit den Schwiegereltern bei Kaffee und Kuchen - "viele Dinge hindern uns Menschen". Die Erklärungsreflexe der Geliebten scheinen nur das zu bestätigen, was die Weide zuvor schon so besserwisserisch feststellte: Siehst du...
Und die Weide bleibt gnadenlos! Unsicher wiegt und knarrt sie, nur um dann ohne mit der Wimper zu zucken die wahrscheinlich schlimmste Möglichkeit seiner Abwesenheit auszusprechen: "kann auch sein er ist schon tot". Aber zu aller Überraschung reagiert die Geliebt nicht mit einem Ausbruch von Hysterie oder Tränen. Ganz im Gegenteil stimmt sie der Weide fast schon lakonisch zu: "kann sein", nur um dann am Ende den vielleicht rätselhaftesten Satz dieses Gedichts zu sagen: "so wollen wir hoffen, er liebt mich nicht mehr".
Was ist das für eine Geliebte, die ganz offensichtlich das eine nicht will, was alle Geliebten wollen: Gegenliebe!? Will sie keine Liebe erfahren?
Doch das will sie! Immerhin ist sie wieder und wieder "wie er's mir auftrug" zu ihren heimlichen Treffen gegangen. Aber sie will sie nicht um jeden Preis! Lieber ist sie dazu bereit, den Geliebten frei zu geben, als dass ihm Schlimmes widerfährt. Sie kann es ertragen! Es tut weh, es schmerzt, aber sie kann es ertragen! Die Liebe, die sie zu geben bereit ist, ist größer und erfüllender als die Liebe, die sie zu erhalten wünscht. Eine paradoxe Liebe: Aus Liebe auf die Liebe zu verzichten.
Die Weide bleibt still! Sie hat nichts mehr zu entgegnen. Wahrscheinlich hatte sie Recht, mit allem, was sie sagte. Aber ihre Munition ist verschossen - und keine ihrer Kugeln hat getroffen. Denn die Frau, auf die sie zielte, zeigte am Ende eine unerwartete Stärke und eine unerwartete Größe: Das Verzichtenkönnen auf die Liebe, weil sie voller Liebe ist. Das ist nicht einfach, das ist nicht schmerzlos, das hat seinen Preis. Aber so ist die Liebe manchmal.