So oft die Sonne aufersteht,
Erneuert sich mein Hoffen,
Und bleibet, bis sie untergeht,
Wie eine Blume offen;
Dann schlummert es ermattet
Im dunklen Schlummer ein,
Doch eilig wacht es wieder auf
Mit ihrem ersten Schein.
Das ist die Kraft, die nimmer stirbt
Und immer wieder streitet,
Das gute Blut, das nie verdirbt,
Geheimnisvoll verbreitet!
Solang noch Morgenwinde
Voran der Sonne wehn,
Wird nie der Freiheit Fechterschar
In Nacht und Schlaf vergehn.
***
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 06.05.2025, 13:00
von Perryoldie
***
Abraham Gotthelf Kästner
(1719-1800)
Die veränderlichen Triebe der menschlichen Alter
Nach Puppen wird das Kind sich sehnen,
Der muntre Jüngling nach der Schönen,
Der Ruhm erhitzt des Mannes Fleiß,
Und Gold begehrt der matte Greis.
Bei so veränderlichen Trieben,
Wer wird sein wahres Glücke lieben?
Nur der, der Schöne, Ruhm und Geld
Für Puppen der Erwachsnen hält.
***
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 07.05.2025, 15:43
von Amtranik
Ein Aphorismus von Jakob Wassermann
(1873-1934)
Ich bin kreuz und quer durch ganz
Süddeutschland gewandert, habe
im Schwarzwald in Holzhütten ge-
nächtigt, bin zu Fuss, nicht nur auf
Schusters Rappen, sondern auf
nackten Sohlen in die Schweiz ge-
zogen und habe oft statt einer
Zimmerdecke auch nur den nack-
ten Himmel über mir gehabt. Als
ich seßhaft wurde, war es nur dem
äusseren Schein nach. Nirgends
hielt es mich lange, und wenn ich
drei Monate in einer Stadt zuge-
bracht hatte, trat ein Zustand von
Lufthunger ein. Berg und Gebirge
zogen mich immer lebhafter an.
Ich war monatelang unterwegs,
wie um die mir gemäße Landschaft
zu suchen. Zwischen meinem drei-
ßigsten und vierzigsten Jahr bin
ich in Italien von Stadt zu Stadt
gezogen, aber alles Entzücken
über die Schönheit, alle Sehn-
suchtsbefriedigung konnte mich
auf die Dauer nicht festhalten.
Nach einer Weile verlangte mich
nach einem Wald, nach einer
Wiese, einem Schatten gebenden
Baum, ja sogar einem schweren
Wolkenhimmel. Der Süden rief
mich, aber dem Norden war ich zu
Eigen.
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 08.05.2025, 18:43
von Perryoldie
***
Franz Kugler
(1808-1858)
Nachtgruß
Vor meinem Fenster dämmert
Das trübe Mondenlicht;
auf meinem Tischlein hämmert
Die Uhr und rastet nicht.
Die stille Nacht durchschallet
Ein einsam hast'ger Gang,
Der wiederum verhallet
Die leere Straß' entlang.
Auf Traumesschwingen heben
Sich die Gedanken mir,
Und heimlich, o mein Leben,
Träum' ich mich hin zu dir.
***
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 11.05.2025, 13:24
von Perryoldie
***
Maria Luise Weissmann
(1899-1929)
Die Katzen
Sie sind sehr kühl und biegsam, wenn sie schreiten,
Und ihre Leiber fließen sanft entlang.
Wenn sie die blumenhaften Füße breiten,
Schmiegt sich die Erde ihrem runden Gang.
Ihr Blick ist demuthaft und manchmal etwas irr.
Dann spinnen ihre Krallen fremde Fäden,
Aus Haar und Seide schmerzliches Gewirr,
Vor Kellerstufen und zerbrochnen Läden.
Im Abend sind sie groß und ganz entrückt,
Verzauberte auf nächtlich weißen Steinen,
In Schmerz und Wollust sehnsuchtskrank verzückt
Hörst du sie fern durch deine Nächte weinen.
***
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 11.05.2025, 13:28
von Perryoldie
Amtranik hat geschrieben: ↑07.05.2025, 15:43
Ein Aphorismus von Jakob Wassermann
(1873-1934)
[...]
Der Süden rief mich,
aber dem Norden war ich zu Eigen.
Im Süden (Süddeutschland ) habe ich gerne gelebt, aber dann zog es mich doch wieder zurück in den Norden.
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 11.05.2025, 15:16
von kad
Wärst du noch etwas südlicher gelandet, wärst du möglicherweise geblieben .
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 11.05.2025, 16:12
von Amtranik
Perryoldie hat geschrieben: ↑11.05.2025, 13:28Im Süden (Süddeutschland ) habe ich gerne gelebt, aber dann zog es mich doch wieder zurück in den Norden.
Den Norden (Friesland) mag ich auch sehr…
kad hat geschrieben: ↑11.05.2025, 15:16
Wärst du noch etwas südlicher gelandet, wärst du möglicherweise geblieben .
Perryoldie hat geschrieben: ↑11.05.2025, 13:28Im Süden (Süddeutschland ) habe ich gerne gelebt, aber dann zog es mich doch wieder zurück in den Norden.
Den Norden (Friesland) mag ich auch sehr…
kad hat geschrieben: ↑11.05.2025, 15:16
Wärst du noch etwas südlicher gelandet, wärst du möglicherweise geblieben .
Perryoldie hat geschrieben: ↑11.05.2025, 13:28Im Süden (Süddeutschland ) habe ich gerne gelebt, aber dann zog es mich doch wieder zurück in den Norden.
Den Norden (Friesland) mag ich auch sehr…
kad hat geschrieben: ↑11.05.2025, 15:16
Wärst du noch etwas südlicher gelandet, wärst du möglicherweise geblieben .
Südlicher als bis Kreuzlingen kam ich leider nie.
Falls du noch eine grössere Reise, zb bis nach Zürich machen möchtest, könnten wir dort das Gottfried Keller Zentrum besuchen und einen Abstecher zu Gotthelf im Emmental planen. Amtranik hätte sicher weitere Ideen für ein solches Treffen.
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 13.05.2025, 08:51
von Amtranik
kad hat geschrieben: ↑12.05.2025, 22:12Falls du noch eine grössere Reise, zb bis nach Zürich machen möchtest, könnten wir dort das Gottfried Keller Zentrum besuchen und einen Abstecher zu Gotthelf im Emmental planen. Amtranik hätte sicher weitere Ideen für ein solches Treffen.
z.B. das Conrad Ferdinand Meyer Museum in Kilchberg/ZH oder die Gräber von bedeutenden Schriftstellern, wie Thomas Mann oder James Joyce.
Ehemalige Wohnorte von Goethe, Wagner, Lenin in der Stadt Zürich... Ja, da gäbe es einiges; nicht zu vergessen das Chaplin-Museum! Stichwort: Stummfilm
Perryoldie: plan mal mindestens ein halbes Jahr ein für deine Literatur-Reise in die Schweiz!
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 13.05.2025, 17:06
von Perryoldie
***
Alfred Meißner
(1822-1885)
Abend am Meer
O Meer im Abendstrahl,
An deiner stillen Flut
Fühl’ ich nach langer Qual
Mich wieder fromm und gut.
Das heiße Herz vergisst,
Woran sich’s müd’ gekämpft,
Und jeder Wehruf ist
Zu Melodie gedämpft.
Kaum dass ein leises Weh
Durchgleitet das Gemüt,
Wie durch die stumme See
Ein weißes Segel zieht.
***
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 13.05.2025, 19:13
von Rous2
Perryoldie hat geschrieben: ↑13.05.2025, 17:06Abend am Meer
Dann wollen wir den alten Perry mal etwas aufmuntern
Heinrich Heine
Das Fräulein stand am Meere
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
Re: Der Literarische Salon
Verfasst: 14.05.2025, 13:18
von Perryoldie
@kad
@Amtranik
Danke für die vielen Tipps , aber aus verschiedenen Gründen sehe ich mich in absehbarer Zeit leider nicht verreisen.
Aber ja, Zürich, Kilchberg und der dortige Friedhof sind schon eine Reise wert.