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Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 22.12.2024, 12:50
von Perryoldie
.
Die Geschichte von Virginia O’Hanlon

Im Jahr 1897 unterhielt sich Virginia mit ihren Freunden über Santa Claus, den amerikanischen Weihnachtsmann. Während sie an ihn glaubte, meinten die anderen, es gäbe überhaupt keinen Weihnachtsmann. Die gesäten Zweifel wollte sie mit ihrem Vater, Dr. Philip O’Hanlon klären, doch seine Antwort war ausweichend.

Die Achtjährige hatte mitbekommen, dass sich die Familie bei auftretenden Zweifelsfragen an die „Frage- und Antwort“-Kolumne der Zeitung 'New York Sun' wandte, eines Blattes, auf das ihr Vater große Stücke hielt.

„Gut, dann werde ich darangehen, an die Sun zu schreiben und die wirkliche Wahrheit herausfinden“, entschied sich Virginia. Ihr Vater bestärkte sie in ihrem Vorhaben mit den Worten „Nur zu, Virginia. Ich bin sicher, dass dir die Sun die richtige Antwort gibt, wie sie es immer macht.“ Das Kind schrieb also an die Lieblingszeitung ihrer Eltern.

Den Auftrag, diese diffizile Anfrage zu beantworten, erhielt der langjährige Journalist Francis Pharcellus Church. Ihm gelang ein Editorial, das zu den berühmtesten Veröffentlichungen in der US-Presse zählt. Es wurde in der Folge jedes Jahr von der New York Sun nachgedruckt. Nach dem Einstellen ihres Erscheinens im Jahr 1950 übernahmen andere Blätter den Text, der auch in andere Sprachen übersetzt wurde.

(Wikipedia)


Der Brief und die Antwort:

(Die folgende Fassung ist eine am Originaltext orientierte Eindeutschung, Quelle: Wikipedia.)


Lieber Redakteur: Ich bin 8 Jahre alt.
Einige meiner kleinen Freunde sagen, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.
Papa sagt: ‚Wenn du es in der Sun siehst, ist es so.‘
Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virginia O’Hanlon.
115 West Ninety-fifth Street.




New York Sun,
Ausgabe vom 21. September 1897,
von Francis Pharcellus Church.


Mit Freude beantworten wir sofort und damit auf herausragende Weise die folgende Mitteilung und geben gleichzeitig unserer großen Freude Ausdruck, dass ihre gewissenhafte Autorin zu den Freunden der 'Sun' zählt:

Virginia,

deine kleinen Freunde haben unrecht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. In diesem unserem großen Universum ist der Mensch vom Intellekt her ein bloßes Insekt, eine Ameise, verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an der Intelligenz, die zum Begreifen der Gesamtheit von Wahrheit und Wissen fähig ist.

Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Er existiert so zweifellos wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und deinem Leben seine höchste Schönheit und Freude geben. O weh! Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so öde, als wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keinen kindlichen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die diese Existenz erträglich machen. Wir hätten keine Freude außer durch die Sinne und den Anblick. Das ewige Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht.

Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Du könntest ebenso gut nicht an Elfen glauben! Du könntest deinen Papa veranlassen, Menschen anzustellen, die am Weihnachtsabend auf alle Kamine aufpassen, um den Weihnachtsmann zu fangen; aber selbst wenn sie den Weihnachtsmann nicht herunterkommen sähen, was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können. Sahst du jemals Elfen auf dem Rasen tanzen? Selbstverständlich nicht, aber das ist kein Beweis dafür, dass sie nicht dort sind. Niemand kann die ungesehenen und unsichtbaren Wunder der Welt begreifen oder sie sich vorstellen.

Du kannst die Babyrassel auseinanderreißen und nachsehen, was darin die Geräusche erzeugt; aber die unsichtbare Welt ist von einem Schleier bedeckt, den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinanderreißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseiteschieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben. Ist das alles wahr? Ach, Virginia, in der ganzen Welt ist nichts sonst wahrer und beständiger.

Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank! lebt er, und er lebt auf ewig. Noch in tausend Jahren, Virginia, nein, noch in zehnmal zehntausend Jahren wird er fortfahren, das Herz der Kindheit zu erfreuen.

___



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Schöne Weihnacht


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(Bilder: Pixabay)

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 23.12.2024, 12:10
von Rous2
Perryoldie hat geschrieben: 22.12.2024, 12:50 Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseiteschieben [...]
Danke für die nette »Ausgrabung«. Erinnert mich ein bisschen an den Film The Miracle on 34th Street (deutscher Titel Das Wunder von Manhattan) von 1947.

Hier meine Weihnachtsgeschichte als Dankeschön für die Besucher des Salons:

Spoiler

Frohe Weihnachten!

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 23.12.2024, 15:16
von Perryoldie
Rous2 hat geschrieben: 23.12.2024, 12:10 [...] Hier meine Weihnachtsgeschichte als Dankeschön für die Besucher des Salons:
Spoiler
Diesen Atlan kann man wirklich nicht unbeaufsichtigt lassen . . . :nein:


:-D

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 24.12.2024, 10:57
von kad
Gottfried Keller
(1819 - 1890)


Waldlied

Arm in Arm und Kron' an Krone steht der Eichenwald verschlungen,
Heut hat er bei guter Laune mir sein altes Lied gesungen.

Fern am Rande fing ein junges Bäumchen an sich sacht zu wiegen,
Und dann ging es immer weiter an ein Sausen, an ein Biegen;

Kam es her in mächt'gem Zuge, schwoll es an zu breiten Wogen,
Hoch sich durch die Wipfel wälzend kam die Sturmesflut gezogen.

Und nun sang und pfiff es graulich in den Kronen, in den Lüften,
Und dazwischen knarrt' und dröhnt' es unten in den Wurzelgrüften.

Manchmal schwang die höchste Eiche gellend ihren Schaft alleine,
Donnernder erscholl nur immer drauf der Chor vom ganzen Haine!

Einer wilden Meeresbrandung hat das schöne Spiel geglichen;
Alles Laub war weißlich schimmernd nach Nordosten hingestrichen.

Also streicht die alte Geige Pan der Alte laut und leise,
Unterrichtend seine Wälder in der alten Weltenweise.

In den sieben Tönen schweift er unerschöpflich auf und nieder,
In den sieben alten Tönen, die umfassen alle Lieder.

Und es lauschen still die jungen Dichter und die jungen Finken,
Kauernd in den dunklen Büschen sie die Melodien trinken.






Eine Vertonung dazu von der Gruppe Jüris

https://youtu.be/erqf7FVo6Qc?si=JaTIphy5GP4JmtEu

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 24.12.2024, 13:40
von Rous2
Zum Mitsingen beim Schmücken des Baums:

Oh Antennenbaum, oh Antennenbaum,
wie grün sind deine Blätter.
Du funkst nicht nur zur Sommerszeit,
nein auch im Winter, wenn's nicht schneit.


Bild

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 25.12.2024, 04:29
von Larsaf
Weihnachten, von Hermann Hesse:

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 25.12.2024, 20:38
von Rous2
Perryoldie hat geschrieben: 15.12.2024, 13:05 Bislang habe ich
- Mark Twain
- Reise um die Welt
Der Originaltitel lautet übrigens Following the Equator. A Journey Around the World. Darin frozzelt der Autor auch gewohnt spitzzüngig über Weihnachten:
The approach of Christmas brings harassment and dread to many excellent people. They have to buy a cart-load of presents, and they never know what to buy to hit the various tastes; they put in three weeks of hard and anxious work, and when Christmas morning comes they are so dissatisfied with the result, and so disappointed that they want to sit down and cry. Then they give thanks that Christmas comes but once a year.
:-D

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 27.12.2024, 08:37
von Perryoldie
Larsaf hat geschrieben: 25.12.2024, 04:29
Weihnachten, von Hermann Hesse:
Spoiler
Das ist übrigens ein legaler Weg, um urheberrechtlich geschütze Gedichte hier einzustellen: Vorgelesen in einem YT-Video. :yes:

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 27.12.2024, 08:39
von Perryoldie


***


Johann Wilhelm Ludwig Gleim
(1719-1803)



Das Leben ist ein Traum!


Das Leben ist ein Traum!
Wir schlüpfen in die Welt und schweben
Mit jungem Zehn
Und frischem Gaum
Auf ihrem Wehn
Und ihrem Schaum,
Bis wir nicht mehr an Erde kleben:
Und dann, was ist’s, was ist das Leben?
Das Leben ist ein Traum!

Das Leben ist ein Traum!
Wir lieben, uns’re Herzen schlagen,
Und Herz an Herz
Geschmolzen kaum,
Ist Lieb’ und Scherz
Ein lichter Schaum,
Ist hingeschwunden, weggetragen!
Was ist das Leben? hör’ ich fragen:
Das Leben ist ein Traum!

Das Leben ist ein Traum!
Wir denken, zweifeln, werden Weise;
Wir teilen ein
In Art und Raum,
In Licht und Schein,
In Kraut und Baum,
Studieren und gewinnen Preise;
Dann, nah’ am Grabe, sagen Greise:
Das Leben ist ein Traum!


***

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 27.12.2024, 15:27
von Gucky_Fan
Barry Strauss: die Geburt des Römischen Kaiserreichs

Mein Sachbuch des Jahres
Normales Heft des Jahres : BCH: Band 3300

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 28.12.2024, 07:01
von Larsaf
Der Weihnachtsbaum
von
Joachim Ringelnatz

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 28.12.2024, 12:22
von Perryoldie
Gucky_Fan hat geschrieben: 27.12.2024, 15:27 Barry Strauss: die Geburt des Römischen Kaiserreichs

Mein Sachbuch des Jahres
[...]
Der Archäologiejournalist Klaus-Dieter Linsmeier hat in 'Spektrum.de' einen sehr schönen Artikel zu dem Buch geschrieben:

Die Geburt des römischen Kaiserreichs - Ein Drama in vier Akten
Spannend und detailreich erzählt Barry Strauss von einer entscheidenden Schlacht und den Persönlichkeiten, die den Beginn einer neuen Epoche prägten.


Klaus-Dieter Linsmeier, 'Spektrum.de' vom 25.12.2023


DER ARTIKEL

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 28.12.2024, 12:29
von Gucky_Fan
Viele Dank. Wieder ein Tipp des Tages:-)

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 28.12.2024, 16:07
von Darmok
Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter, 1763 - 1825)

Wer die Vergangenheit liebt, der liebt eigentlich das Leben.
Die Gegenwart bleibt flüchtig, selbst wenn ihre Fülle sie ewig erscheinen läßt.
Liebt man das Leben, so liebt man die Vergangenheit, denn die Eindrücke der Gegenwart bestehen in der Erinnerung fort.

Re: Der Literarische Salon

Verfasst: 28.12.2024, 19:28
von Rous2
Darmok hat geschrieben: 28.12.2024, 16:07 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter, 1763 -
Ja, der Namenspatron von Asteroid 14365534 ist immer für einen Fund gut. Er schrieb auch – um bei meinem Thema zu bleiben – einen Reiseroman. Und was für einen! Eine Stelle daraus kann man geradezu als sprachliche Illustration des hier gerne geäußerten Mottos Ad Astra! betrachten:
Jetzo flogen wir durch die zahllosen Sonnen so eilig hindurch, daß sie sich vor uns kaum auf einen Augenblick zu Monden ausdehnen konnten, ehe sie hinter uns zu Nebelstäubchen einschwanden; und ihre Erden erschienen dem schnellen Fluge gar nicht. Endlich standen die Erdsonne und der Sirius und alle Sternbilder und die Milchstraße unseres Himmels unter unsern Füßen, als ein heller Nebelfleck mitten unter kleinen tiefern Wölkchen. So flohen wir durch die gestirnten Wüsten; ein Himmel nach dem andern erweiterte sich vor uns, und verengerte sich hinter uns – und Milchstraßen standen hintereinander aufgebauet in den Fernen, wie Ehrenpforten des unendlichen Geistes.
Jean Paul, Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte. In: Sämtliche Werke. München 1963. Erstmals erschienen 1820.

Der Dichter folgt hier der Vorstellung von Immanuel Kant vom Aufbau des Universums, die dieser in seinem Werk Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) vertreten hatte (und sich darin auf Thomas Wright und sein Buch An original theory or new hypothesis of the universe von 1750 bezog: »Herrn Wright von Durham, deßen Abhandlung ich aus den Hamburgischen freyen Urtheilen vom Jahr 1751 habe kennen lernen, […]«), einschließlich der von Kant geometrisch begründeten Vermutung, dass der Sirius das Zentrum, den »Zentralkörper«, der scheibenförmigen Milchstraße bilde, und dass es eine Vielzahl solcher Milchstraßen – von den zeitgenössischen Astronomen Nebel genannt, da die damals zur Verfügung stehenden Instrumente keine Einzelsterne auflösen konnten – in einem unendlichen Universum gäbe (Siebendes Hauptstück, von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit, sowohl dem Raume, als der Zeit nach: »[…], werden nicht mehr Sonnensystemata, und, so zu reden, mehr Milchstrassen entstanden seyn, die in dem Grenzenlosen Felde des Weltraums erzeuget worden?«). Der Streit, was diese Nebel seien, wurde noch 1920 von den Protagonisten Curtis und Shapley geführt und erst vier Jahre später von Edwin Hubble beendet, als der durch eine Entfernungsbestimmung mithilfe periodisch veränderlicher Sterne (Cepheiden) die Position des Andromedanebels außerhalb der Milchstraße verorten konnte.