Unsterblichkeit für Anfänger
Don't, expect any answers, dear,
Well, I know that they don't come with age, no, no,
I ain't never gonna love you any better baby
I'm never gonna love you right
So you better take it now, right now, ohh
Janis Joplin, Kozmic Blues (1969)
Es war genauso, wie ich es mir insgeheim vorgestellt hatte. Aber das musste ja auch so sein, sonst hätten meine Sinne es nicht erfassen und mein Verstand, so vorhanden, es nicht verarbeiten können.
Ich drehte am späten Nachmittag meine gewohnte Fußrunde um den Bau, ehe die häuslichen Pflichten mich in die Küche riefen, um uns beiden ein Abendessen zuzubereiten. Wie in den vergangenen vier Jahren, seit ich im Ruhestand war. Ich trottete die gewohnten Wege im Grünzug, in Tagträume versunken. Es war sonnig und klar, aber schon frisch; der beginnende Herbst war deutlich zu spüren. Wieder bald ein Jahr vorbei. Wieder weniger bis zur Neige. Rückert wühlte sich bei seinem Stichwort behend nach oben:
eine neige wein,
eine neige liebe;
dasz vom abendschein
nun soviel mir bliebe,
meinen doppelrest
langsam auszutrinken.
Ich blinzelte gegen die Abendsonne. Es wurde auf einmal noch einen Hauch kühler. Ein Schatten vor der Sonne.
Fast lautlos schob er sich neben mich. Ein hagerer, grauer, stoppelbärtiger, nach Tabak und schlecht gelüfteter Kleidung riechender Mann.
- Ob mir das Ernst sei, das mit der Lebensverlängerung.
- Ja klar. Und ich kenne auch die Fallen; man muss die Ewige Jugend dazu wünschen.
- Das geht in Ihrem Fall leider nicht mehr. Die Zeit läuft immer nur vorwärts, nicht zurück. Da versagen leider die schönen Formeln der Klassischen Physik.
- Ja, sagte ich. Habe ich schon gemerkt. Haufenweise Krempel aus der Vergangenheit schleppen wir mit, aber wenn erhellende Dokumente aus der Zukunft genehm wären: Fehlanzeige. So ist das eben mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Gegenwart passiert gerade jetzt. Die Vergangenheit ist längst vorbei und nicht mehr greifbar und die Zukunft noch unbestimmt und ungewiss und ebenso wenig real wie die Vergangenheit.
Der Hagere wiegte den Kopf.
- So erscheint es uns zumindest. Die moderne Physik hat dagegen eine etwas andere Sicht auf die Dinge. Im Modell des Blockuniversums werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft völlig anders beschrieben. Die Vergangenheit ist nicht vorbei. Die Zukunft ist nichts, was erst noch passieren muss. Die Vergangenheit des einen ist die Zukunft eines anderen und umgekehrt. ALLES ist quasi Gegenwart; jeder Zeitpunkt ist real und nichts je wirklich vergangen. ›Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist eine Illusion‹, sagt Albert Einstein. ›Wenn auch eine sehr hartnäckige…‹
Ich zögerte. Der Knabe kam mir nicht gerade vor, wie ein bahnbrechender Vertreter der modernen Physik. Und das sagte ich ihm dann auch.
- Oh nein, ich bin kein Physiker. Ich bin bloß ein Zuhälter und lasse sie für mich arbeiten. Zum Beispiel in Sachen Lebensverlängerung. Kein Mensch würde bei einer Gestalt wie mir eine Lebensversicherung kaufen. Aber bei einer Lebensverlängerung fallen die Hemmschwellen.
- Und das funktioniert tatsächlich, kein Hokuspokus?
- Oh ja. Ich habe die Technik entwickelt, die gewisse Erkenntnisse der Bio-Physik zur Lebensverlängerung nutzt. Im Prinzip Nanomaschinen auf biologischer Basis. Das muss klar sein: Es handelt sich um Technik, nicht um Zauberei. Ich bin nicht der Liebe Gott. Das Lebenserhaltungssystem, das ich anbiete, greift in die Zellreproduktion ein, somit arbeiten künftig in Ihnen nagelneue, sich ständig erneuernde Zellen. Nur manche Körperteile reparieren sich halt nicht und unterliegen weiter der Abnutzung: Also die dritten Zähle sind irgendwann fällig, die kommen nicht von selbst nach.
Ich biete einen fairen Vertrag. Je länger Sie die Zahl in der Sterbetafel für Ihren Jahrgang überleben, desto mehr kassiere ich. Aber ich melke nur, ich schlachte nicht. Zahlungen antizipatorisch fällig zum Monatsultimo.
Mein Gott, der Kerl redete wie weiland mein Buchführungslehrer.
- Und wie muss ich den Vertrag besiegeln, mit einem Tropfen Blut?
- Na ja, das wäre ein bisschen
old school, woll, aber möglich. Ich brauche DNA. Ein Blutstropfen ginge, aber ein Haar tut's auch.
Also, damit das klar ist, mehr als das Dämpfen des nagenden
timor mortis conturbat me kann ich nicht anbieten. Dagegen hülfe vielleicht auch Schnaps. Käme Sie auch billiger. Schlafen Sie drüber und entscheiden Sie sich dann.
Teufel, der Kerl konnte verkaufen. Bei dem hätte Schönewolff sel. noch was lernen können. Irgend etwas an dem Knaben gefiel mir. Und zumindest duzte er mich nicht, wie die meisten Verkäufer heutzutage.
- Na, gut, ich überleg's mir.
- Dann bis morgen, gleiche Zeit, gleicher Ort.
An der nächsten Abzweigung verließ er mich und ich ging in Gedanken zurück nach Hause.
***
Als ich am nächsten Tag um die Wegkehre bog, saß er da, auf der Bank im Grünstreifen, wie ein gelangweilter Penner.
- Bereit?
- Ja, sagte ich. Hier ist das Haar, wie gewünscht.
***
Am Abend, nachdem ich meine Frau versorgt und zu Bett gebracht, und ich mich in meinem treuen Ledersessel zum Lesen eingerichtet hatte, kam mir ein Vers von William Dunbar in den Sinn:
In medicyne the most practicianis,
Lechis, surrigianis, and phisicianis,
Thame self fra ded may not supple;
Timor mortis conturbat me.
Tja,
physicians sind eben keine
physicists, dachte ich etwas schadenfroh in Erwartung dessen, wie es wohl weiterging.
***
Das nächste Treffen war unspektakulär, wie das zuvor. Ich bekam eine Einwegspritze ausgehändigt mit dem Hinweis, sie einfach in die Bauchdecke zu setzen, wie bei einer Thrombose-Prophylaxe, ich wüsste ja, wie's geht.
Ja, wusste ich. Jedesmal ein Angang.
***
Ich habe dann am nächsten Tag die Spritze gesetzt. Dann wartete ich auf die Reaktion.
Die kam schon tags darauf. Der Appetit nahm zu, und nicht nur der nach Essen; der Durst war kaum zu stillen. Oh ja, der Kerl hatte nicht zuviel versprochen. In den folgenden Tagen bildeten sich neue Zellen. Am schnellsten ging es bei den Haaren. Wie in der Reklame: Zwingt grau raus. In der nächsten Woche wurde die Haut straffer, Falten verschwanden. Es war unglaublich. In der dritten Woche bekamen anscheinend die Plasmazellen einen Wachstumsschub, die Dinger, die Antikörper produzieren. Aber leider nicht nur die ordentlichen, auch die entarteten, die in den letzten zehn Jahren nach Chemotherapie und autologer Stammzellentransplantation kusch waren. Ich konnte förmlich fühlen, wie ihre klonale Vermehrung rasant anwuchs. Die freien Leichtketten, die sie produzieren, überschwemmten jetzt die Blutbahn, infiltrierten das Knochenmark und begannen mit der Zerstörung der Knochen und Verdrängung der normalen Blutbildung. Die inneren Organe gingen wieder unter der Amyloidose in die Knie. Dann führte das verseuchte Blut zu Kopfschmerzen, Benommenheit, Schwindel, Hör- und Sehstörungen und Schläfrigkeit. Die Zellaktivatoren (ich nenn' sie mal so) aus dem gespritzten Serum arbeiteten rasanter als die Natur. Blutverdünner hätten es vielleicht hinausgezögert, aber die waren nie gewünscht. Dann kamen Krampfanfälle und Nierenversagen, das Koma und schließlich der Tod. Die zudringlichen Lebensretter wurden mit der Patientenverfügung vom Leib gehalten.
***
Multiples Myelom ist ein Griff ins Klo. Die Zehnjahresüberlebensrate liegt bei einem Drittel. Meine Frau hätte auch mehr geschafft, wenn ich nicht gewesen wäre.
Ich hatte dem Stromer ein Haar von ihr gegeben und ihre Thrombose-Spritze gegen seine ausgetauscht. Ein winziger, unscheinbarer Strang, aber voller Erinnerungen und Liebe. Meine Entscheidung, meine Schuld.
Das Leben ist nicht zum Heulen, man kann nur darüber lachen.
Heinrich Seidel
Der Luftballon
Das war wohl nicht nach deinem Sinn,
O weh, mein kleiner Hans!
Da fliegt dein Luftballon dahin
Im Morgensonnenglanz.
Und alle Leute um und um,
Sie stehn und sehn empor
Und freun sich gar und lachen drum,
Daß Hänschen ihn verlor.
Da geht er ab und segelt fort,
Empor mit leichtem Flug
Und sucht sich einen andern Ort -
Die Welt ist groß genug.
In blaue Luft steigt er gemach,
Und unerreichbar fern
Verstrahlt er überm Kirchendach
Als wie ein roter Stern.
Nach Süden segelt er geschwind,
Zum fernen Afrika,
Wo all die schwarzen Menschen sind,
Und bald ist er schon da.
Wie dann sich wohl die Schwarzen freun,
Und alles tanzt und springt,
Wenn übermorgen um halb neun
Er dort heruntersinkt.